„Würg!“ – Zur missglückten Verteidigung des Links(il)liberalismus durch Nachtwey/Amlinger

Ein endloser Schwall Erbrochenes in Regenbogenfarben ziert am linken Rand des Artikels die Ausführungen der beiden Soziologen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger in der aktuellen Ausgabe der ZEIT (Nr. 18 vom 27.04.2023). Unter der Überschrift „Würg!“ formulieren sie im Teaser ihr journalistisches Anliegen: die Rettung der Linksliberalen vor allzu heftiger Kritik.

Doch gleich zu Beginn ihrer Argumentation warten sie mit einer derart klischeehaft-überzeichneten Dichotomie auf, dass ihre Prämisse windschief wie ein verlassenes Hexenhaus wirkt: Demnach kennzeichnet sich die typischen Anhänger des Linksliberalismus wie folgt:

Ihre Mitglieder fahren Lastenfahrräder, bei ihnen kommt nur „bio und fair gehandelt“ in den Jutebeutel, sie tragen gerne Funktionsjacken, quälen ihre Kinder mit Holzspielzeug und wollen allen anderen den Spaß am Leben verderben.

Ihre politischen Gegner dagegen lehnten sich auf:

…gegen Gendern, Klimaproteste, Transrechte, Fleischverzicht in der Kantine und Einschränkung des individuellen Pkw-Verkehrs.

Natürlich verfüge ich über keine repräsentative Studie, was die Einstellung der „Anti-Linksliberalen“ zu obigen Punkten betrifft. Für meinen Teil kann ich jedoch feststellen: Weder habe ich grundsätzliche Einwände gegen Klimaschutzforderungen oder die rechtliche Gleichstellung von Menschen, die im „falschen“ Körper geboren wurden. Auch der ausufernde Individualverkehr mit seinen demnächst wohl 50 Mio. (!) Pkw in Deutschland nervt mich ein ums andere Mal.

Trotzdem komme ich nicht auf die Idee, die sog. „Klimakleber“ argumentativ zu verteidigen oder ein fixes Datum für das Verbot von Verbrennermotoren gutzuheißen. Oder gar die inflationäre Verwendung des Kampfbegriffs „transphob“, der in Teilen der Queer-Szene gegen all diejenigen geschleudert wird, die auf biologische Fakten bestehen und darauf hinweisen, dass Transfrauen immer noch biologische Männer sind und das idiotische „Selbstbestimmungsgesetz“ der Ampel-Regierung in seiner geplanten Form zurückweisen!

Es sind also vielmehr die überzogenen Methoden bzw. Forderungen aus Teilen des links(il)liberalen Milieus, die mir (wie vielen anderen Menschen auch) Magenschmerzen bereiten, NICHT die Anliegen selbst – OK, mal abgesehen vom Gendern, aber dieses Thema stellt für mich eher einen „Nebenkriegsschauplatz“ dar. Ich würde z.B. meinen Schülern auch keine Fehler ankreiden, sollten sie in einer Klausur der vermeintlich geschlechtergerechten Schreibung Ausdruck verleihen!

Auch bei folgenden Themen, die Nachtwey/Amlinger nennen, fühle ich mich in meiner politischen Haltung nicht korrekt wiedergegeben:

…Kritik an einer „kosmopolitischen“ und „globalistischen“ Klasse mitsamt ihrem migrationsfreundlichen und nachhaltigen Lebensstil; […] eine diffuse Skepsis gegenüber den Regierungsmaßnahmen während der Corona-Pandemie; eine negative Haltung gegenüber Impfungen […]

Gegen eine rational gesteuerte Migration, die vor allem auf die Rekrutierung von Fachkräften abzielte, wäre nun wirklich nichts einzuwenden. Das Problem der derzeitigen UNGELENKTEN Migration besteht aber doch darin, dass ohne Prüfung auf mögliche kriminelle Vorstrafen und unter Verkennung weitverbreiteter islamistischer Haltungen insbesondere bei Menschen aus den Herkunftsländern Afghanistan, Syrien und Irak sowie deren überwiegend kaum vorhandenen Bildungsstandards alles hereingewunken wird, was die Grenze überschreitet und im richtigen Moment „Asyl“ zu sagen im Stande ist!

Und die rational sehr gut begründete Kritik an den freiheitsfeindlichen und völlig überzogenen Lockdown-, Berufsverbots- und Impfzwang-Regeln der Corona-Zeit hat ebenso NICHTS mit der von den beiden Soziologen unterstellten „diffusen“, ergo: aus dem Bauch heraus ohne rationale Argumente geäußerten Kritik zu tun wie die behauptete generelle Ablehnung des Impfens! Hier würde ich klar zwischen der signifikant mehr Impfschäden nach sich ziehenden sog. Covid-Impfung und den nachweislich wirksamen Vorsorge-Impfungen bspw. gegen Masern oder Röteln differenzieren wollen.


Den Autoren sei wohlwollend zugestanden, dass sie durchaus die Existenz von „Linksliberale[n], die mit der Selbstgewissheit einer moralischen Avantgarde untere Klassen pädagogisch maßregeln“ – einräumen und auch die Kritik an Sahra Wagenknechts ablehnender Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine wird sachlich korrekt als das bezeichnet, was es ist:

Kunstvoll bringt sie [Wagenknecht, Anmerkung M. Haß] legitime gesellschaftliche Beschwerden mit Vorurteilen zusammen.

Mit ihrer Position zum Krieg Russlands kann sie etwa die aus dem Kalten Krieg stammende Bündnisorientierung mit der Sowjetunion und die prorussischen Einstellungen in der ostdeutschen AfD-Wählerschaft verknüpfen.

Die Tatsache, dass es sich insbesondere in Medien, Politik und Kulturbetrieb um gesellschaftliche Schlüsselstellen handelt, die ganz überwiegend von links(il)liberalen Akteuren besetzt sind, können Nachtwey/Amlinger dagegen nicht widerlegen. Hier bleiben sie konkrete Gegenargumente schuldig und ziehen sich auf rein konjunktivischen Sprachgebrauch zurück:

Die identitätspolitische Linke habe „Schlüsselpositionen“ in den Medien inne, so etwa das Gründungsmitglied des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit Sandra Kostner schon 2019 in der FAZ. Der linksliberale, regierungstreue Mainstream bestimme die zentralen Organe der Meinungsbildung.

Der Anti-Linksliberalismus lebt von der Rolle der Renegaten. Die ehemaligen im weiten Sinne Linken inszenieren sich als Bekehrte und Erwachte: Sie sprechen die unangenehmeren Wahrheiten über den „Mainstream“ aus, der dissidente Stimmen mundtot mache.

Dabei belegt ironischerweise ein weiterer Beitrag der selben ZEIT-Ausgabe nur eine Seite hinter Nachtwey/Amlingers bemühter Rettung des Links(il)liberalismus eben jene von ihnen in Abrede gestellte Cancel-Unkultur, die in Teilen dieser politischen Strömung um sich greift: Wird hier doch das Beispiel der engagierten Journalistin Sylvia Eigenrauch („Ostthüringer Zeitung“) ausgebreitet, die sich in Folge moderater (!) Kritik an den überharten Corona-Maßnahmen flugs mit ihrer fristlosen Kündigung konfrontiert sah („Falsch geschrieben“)!

Sicher mag es die von Nachtwey/Amlinger kritisierte pauschale Abwehr obiger Themen in (liberal-)konservativen Kreisen geben, für dominant halte ich sie aber nicht. Vermögen die meisten Menschen aus gebildeten Schichten mit einer politischen Haltung jenseits von SPD, den Grünen und Linken doch sehr wohl zu unterscheiden zwischen der Sinnhaftigkeit politischer Anliegen und einer übertriebenen, ins Religiöse abdriftenden Entwicklung, wie sie bspw. bei der „Letzten Generation“, aber auch vielen ihrer medialen und politischen Kumpanen mittlerweile zu finden ist.

Wer heute noch gegen die rechtliche Gleichstellung von transidenten Personen, pauschal gegen Klimaschutz und umsichtige Aufnahme von Migranten an sich eingestellt sein sollte, hat das (liberal-)konservative Ufer eh in Richtung offener See reaktionärer Unbelehrbarkeit hinter sich gelassen und sollte von daher auch nicht für politische (Zweck-)Bündnisse in Frage kommen.

Die von Nachtwey/Amlinger unterstellten Ressentiments aber vermögen ebenso wenig eine rationale Grundierung in den emotionalisierten, ja teils extrem vergifteten Gesellschaftsdiskurs zu bringen: Chance vertan – „Würg!“

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