Verhältnismäßigkeit Fehlanzeige! Vom Versagen weiter Teile in Politik und Medien hinsichtlich eines verantwortbaren Umgangs mit der Pandemie

Es war eine kostenlose, vom Umfang her minimale „Ausstellung“ am Rande eines öffentlichen Parkplatzes in Bremen irgendwann in den 2000er-Jahren: Leider kann ich zu den konkreten Inhalten nichts mitteilen, da ich sie komplett verdrängt habe.

Mit Ausnahme dieses einen Satzes, der sich bei mir seitdem tief eingebrannt hat: Er besagt sinngemäß, dass in der asiatischen Art zu denken grundsätzlich und anders als bei der westlichen Denkungsart mit völliger Selbstverständlichkeit davon ausgegangen werde, dass es in den allermeisten weltanschaulichen Streitfragen mehr gebe als ein bloßes Entweder/Oder, Richtig/Falsch, Wahrheit/Irrtum.

Mittlerweile scheint diese Erkenntnis auch hierzulande angekommen zu sein (jedenfalls in akademischen Kreisen, Stichwort „Ambiguitätstoleranz“). Gleichwohl scheint sie, wenn es um Medienberichterstattung zu diversen Krisenphänomenen geht, wieder vollkommen in der Versenkung des öffentlichen Bewusstseins verschwunden zu sein: Und so stehen sich in der gefühlten Ewigkeit von anderthalb Corona-Jahren nach wie vor treue Anhänger jedweder Regierungsmaßnahmen und ihre in eigentlich allen Punkten vom Gegenteil überzeugten Antipoden unversöhnlich gegenüber, wie nicht zuletzt die Causa #allesdichtmachen im April/Mai dieses Jahres offenbarte.

Dass es jedoch argumentativ bestens bestückte Meinungen gibt, die sich genau zwischen diesen beiden Extremen bewegen, fällt dabei so gut wie unter den Tisch: Dank jenes antagonistischen Freund/Feind-Denkens scheinen viele Medienbeiträge diese Sichtweise auch noch zu befeuern und senden lieber die gefühlt 500. Grusel-Doku über die sog. „Querdenker“-Szene und ihre in der Tat oft bizarr-fanatischen Auswüchse, statt einmal einen Gang herunterzuschalten und die durchaus differenzierten Zwischentöne wahrzunehmen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Eine derartige „wohltemperierte“ Position scheint mir z.B. in Gestalt des Positionspapiers „Corona ins Verhältnis setzen“ vorzuliegen, weshalb ich im Folgenden hieraus unkommentiert zitieren möchte:

Sebastian Rushworth [schwedischer Arzt]: „Und während fast alle Menschen, die an Covid-19 starben, in reichen Ländern und in hohem Alter starben, war die große Mehrheit der Menschen, die am Lockdown starb, aus armen Ländern und jung. Das bedeutet, dass die Zahl der der verlorenen Lebensjahre infolge von Lock-downs jene der verlorenen Lebensjahre infolge von Covid-19 vielfach übersteigt. (…) Lockdowns sind inhärent rassistisch und elitär, mit unklarem Nutzen, aber sicherem Schaden.” Die Covid-19 Data Analysis Group an der Fakultät für Mathematik, Statistik und Informatik der LMU München schreibt in ihrem 16. Bericht vom 28. Mai 2021: „Bei den R-Werten, wie sie vom Robert-Koch- Institut täglich bestimmt werden, ergibt sich seit September kein unmittelbarer Zusammenhang mit den getroffenen Maßnahmen – weder mit dem Lockdown-Light am 2. November und der Verschärfung am 16. Dezember 2020, noch mit der „Bundesnotbremse“, die Ende April 2021 beschlossen wurde.“

Gegen die Grippe wird – im Vergleich zu Covid-19 – praktisch nichts getan. Gegen Covid-19 hingegen so viel, dass alle anderen Themen an Gewicht und Bedeutung verlieren und das öffentliche Leben und Teile der Wirtschaft lahmgelegt werden. Das ist sehr sonderbar und auffällig. Die Regierungen begründen ihre Zwangsmaßnahmen mit dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Das ist für sich betrachtet ein hehres Ziel. Doch das Erreichen dieses Zieles müsste, wenn es wirklich ernst gemeint wäre, systematisch angegangen werden. Zum Beispiel so: Auf den öffentlichen Gesundheits-Dashboards scheinen nach ihrer Letalität geordnet die zehn größten Gesundheitsgefahren auf. In Deutschland hätte Covid-19 im Jahr 2020 auf dem Ranking des Statistischen Bundesamtes Platz fünf oder sechs eingenommen, nach Thrombosen/Embolien, Demenz, Lungenkrebs, Herzinfarkt, gleichauf mit oder knapp hinter Herzversagen. Laut Statistik Austria rangieren Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 38,5 % und Krebs mit 24,5 % unangefochten an der Spitze aller krankheitsbedingten Todesursachen. Weit abgeschlagen folgen mit 6,3 % Erkrankungen der Atmungsorgane. In Österreich sterben jährlich insgesamt rund 85.000 Menschen – davon 2020 rund 6.000 oder 7 % an oder mit Covid-19 (bzw. mit einem positiven PCR-Testergebnis). Auch die WHO reiht Covid-19 im Jahr 2020 mit 1,8 Millionen Toten an die sechste Stelle von Todesursachen, weit abgeschlagen hinter Thrombosen und Embolien, Herzinfarkt, Lungenkrankheiten, Infektionen der unteren Atemwege und Tod kurz nach der Geburt.75 Rechnet man eine 13- bis 17prozentige Überzählung ab, würde Covid-19 gerade noch unter den zehn häufigsten Todesursachen aufscheinen. In absoluten Zahlen war die Corona-Pandemie im Jahr 2020 für weniger als 5 % aller Todesfälle verantwortlich und für weniger als 20 % der Todesfälle infolge von Infektionskrankheiten.77Angesichts dieser Verhältniszahlen könnte man fragen: Müsste die Regierung nicht fünfmal mehr über Herz-Kreislauf-Erkrankungen reden und 3,5mal so viel über Krebs (oder in anderen Ländern den Tod nach der Geburt) sowie entsprechend mehr gegen diese Gesundheitsgefahren unter-nehmen als gegen Covid-19? Wenn der Grund, warum gegen Covid-19 mehr unternommen wird als gegen Grippe, der ist, dass Covid-19 zumindest 1,5mal tödlicher ist, müsste dann nicht entsprechend noch viel mehr gegen diese viel tödlicheren Gefahren unternommen werden?

Covid-19 betrifft vor allem Menschen, die bereits die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht haben und – rein statistisch gesehen – täglich an Altersschwäche sterben könnten. Verkehrsunfälle treffen dagegen junge Menschen, die noch das ganze Leben vor sich haben, relativ am härtesten: Bei den 5- bis 29-Jährigen sind Verkehrsunfälle weltweit Todesursache Nummer eins! Insgesamt sterben jedes Jahr 1,35 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen (Covid-19 2020: 1,8 Millionen). Dazu kommen 50 Millionen Verletzte, oft mit dauerhaften Beeinträchtigungen für die Gesundheit wie Krücken, Prothesen oder Rollstuhl – „Langzeitfolgen“. Warum wird hier konsequent auf Eigenverantwortung gesetzt, statt die Gesundheit der Betroffenen mit Zwangsmaßnahmen zu schützen? Die Kosten für die Bergung, Behandlung und Genesung der Verkehrsunfallopfer würden frei werden für mehr Intensivbetten zur Behandlung weniger vermeidbarer Krankheiten. Warum liefern uns die Regierungen nicht täglich die Zahlen der Erkrankten, Verletzten, Hospitalisierten, Verstümmelten und Verstorbenen in diesen Bereichen? Warum machen die Regierungen uns hier im Verhältnis so gut wie keine Angst, wieso lösen sie weder „Urangst“ noch Schuldgefühle aus, wieso erlauben sie stattdessen massenhaft Autowerbung? Und vor allem: Wieso ergreifen sie keine vergleichbaren Maßnahmen? Und wieso ist diese radikale Unverhältnismäßigkeit nicht Gegenstand breiter medialer Diskussionen?

Die tägliche Medienrealität besteht dem gegenüber bekanntlich darin, uns nach wie vor mit 7-Tage-Inzidenzwerten zu malträtieren, die jedoch ohne zusätzlich herangezogene Hospitalisierungsrate, Angaben zum Umfang vorgenommener Testungen sowie der Impfquote (die immerhin dann doch hin und wieder Erwähnung findet) kaum aussagekräftig sind. Auch zur (Un-)Gefährlichkeit der aktuell viel diskutierten Delta-Variante existieren offenbar bislang wenig valide Fakten, was die Journaille natürlich nicht daran hindert, die ohnehin noch immer weitgehend im Panik-Modus verharrende Politik vor sich her zu treiben. Oder in den Worten von Marcus B. Klöckner in seinem Buch „Sabotierte Wirklichkeit. oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“ (bereits vor Covid-19 verfasst):

„Die Schäden an unserem demokratischen System, die durch Medien verursacht werden, die weitestgehend ihrer Wächterfunktion nicht mehr nachkommen, sind bereits gewaltig.“ (S. 16)

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